Der Nachmittag brachte nicht die besungenen acht Grad Regen hervor und doch herrschte weitgehend die übliche Novembertristesse auf einem Sportplatz in Wedel. Die Sonne ließ sich zwar bei ungemütlichen fünf Grad Celsius von Zeit zu Zeit am meist bewölkten Himmel blicken, doch von einem gerade stattfindenden Fußballspiel nahmen dennoch nur wenige Zuschauer Notiz. Und so blieb der Beginn einer eindrucksvollen Erfolgsgeschichte fast unbemerkt von der Öffentlichkeit an jenem Nachmittag, am 21. November 2004, vor zwölfeinhalb Jahren.
"Ich hatte im Internet gelesen, St. Pauli Frauenfußball sucht Trainer. Ich hatte damals aufgehört Fußball zu spielen und meinte zu meinem Freund aus Studienzeiten beim Afrikafestival an der Uni 'na, soll ich es machen, soll ich es nicht machen?' " Kai Czarnowski, um den es in diesem Artikel geht, rief an und hinterließ seine Nummer. Zum Glück, kann die Mädchen- und Frauenfußballabteilung heute nur urteilen.
Schon wenige Stunden später folgte der Rückruf. Vorher hatte Czarnowski, selbst Torwart während seiner Spielerkarriere, erste Erfahrungen als Trainer bei der E-Jugend seines Heimatvereins TSV Lohe-Rickelshof gesammelt. Er beschreibt sich selbst als Mensch, der sprunghafte Veränderungen grundsätzlich nicht mag. "Im Hinterkopf hatte ich schon, dass man etwas entwickeln könnte. Aber schon bei der ersten Teamsitzung, an die ich mich bis heute gut erinnere, merkte ich, dass es nur in kleinen Schritten geht. Das fand ich sehr sympathisch."
Erfolgreiches Debüt
Er stellte sich dem Team beim Training vor und beobachtete eine Ligapartie. An die Regionalliga oder gar noch höher dachte damals niemand in der Abteilung. "Einfach erfolgreicher sein als zuvor", nahm sich Czarnowski vor und hielt den Ball damit sehr flach. Schließlich handelte es sich um eines der erfolglosesten Teams des Hamburger Fußballs, welches noch nie zuvor eine Saison mit einem positiven Torverhältnis abgeschlossen hatte.
Auch in der damaligen Saison lief es mehr schlecht als recht. Nach acht Spieltagen dümpelte der FC St. Pauli sieglos im Tabellenkeller. "Nicht allzu hoch zu verlieren," galt damals fast immer als Mindestziel. Diesen Gedanken wollte Czarnowski als erste Maßnahme vertreiben: "Vor dem Spiel in Wedel sagte ich dem Team: Ab heute ist das Ziel, auch mal Spiele zu gewinnen." Das klappte mit 2:0 auch sofort. Aus dem 'Spiel zur Probe' wurde ein festes Engagement.
Anfangs bildete Czarnowski noch mit dem Urgestein Sabine Hirth ein Team. Die Arbeit trug früh erste Früchte. Die Saison wurde zwar immer noch mit einem negativen Torverhältnis abgeschlossen, doch am Ende standen sechs Siege und der siebte Platz auf der Ertragsseite. Dennoch war der Weg nach oben dornig.
Der Pädagoge
Fragt man Czarnowski nach einer Spielerin, über deren Entwicklung er sich besonders freut oder gar nach einer Lieblingskickerin, beißt man sich die Zähne aus. "Ich habe nie eine Spielerin besonders hervorgehoben oder kritisiert. Das Niveau war so unterschiedlich, dass es nicht fair gewesen wäre, eine Spielerin besonders hervorzuheben. Für mich waren alle gleich."
Eine passende Anekdote fällt mir in diesem Zusammenhang ein. Bei einem Heimspiel hatte eine meiner Lieblingsspielerinnen (als Fan erlaube ich mir das) einen ganz schlechten Tag erwischt. Nach der Partie fragte ich Kai, warum er sie nicht in der Pause vom Platz genommen hatte. Seine Begründung war eine ganz einfache: Ihre auswärtigen Eltern seien ausnahmsweise vor Ort gewesen, um ein Spiel der Tochter zu sehen.
In solchen Momenten gewinnt offensichtlich sein eigentlicher Beruf die Oberhand: "Als Sonderschullehrer hängt mein Herz an den Schwächeren, weshalb ich sie nie für etwas speziell verantwortlich gemacht habe. Ich habe nie jemanden an die Wand gestellt. Alle wussten, woran sie sind. Ich glaube tatsächlich, dass viele auch über ihrem Niveau gespielt haben. Du kannst auch Fehler machen. Das ist nicht dramatisch. Dann traust Du Dir etwas zu, auch wenn Du vielleicht weißt, Du hast vielleicht nicht das Level."
Der Leistungsgedanke
Fehler macht jeder - zweifellos auch ein Trainer. 2008 nahm der Frauenfußball beim FC St. Pauli richtig Fahrt auf. Durch die Gründung eines zweiten Teams wurden Leistungs- und Breitensport getrennt. Ein Jahr später gelang der Aufstieg in die Landesliga. Dort etablierte sich das Team schnell und feierte im Frühjahr 2010 bei strahlendem Sonnenschein in Elmshorn einen hervorragenden fünften Platz.
Sportlich hatten 13 Punkte zum Aufstieg gefehlt. Da aber einige Teams auf die Verbandsliga verzichteten und dort aufgefüllt werden musste, bot der Hamburger Fußballverband dem FC St. Pauli einen Platz in seiner höchsten Liga an. Czarnowski befragte damals das Team und das Umfeld. Auch wenn es den einen oder anderen Zweifler gab, nahm die Abteilung die Chance wahr.
Die Politik der kleinen Schritte wurde verlassen. "Im Verein und im Hamburger Fußball hat man jahrelang gehört, dass St. Pauli nicht will. Das ist immer noch so. Auch jetzt heißt es wieder, die wollen nicht, nur weil wir als Dritter der Regionalliga nicht für die zweite Liga gemeldet haben. Das wäre auch ein Wahnsinn gewesen. Aber andere Vereine sagen, guck mal, die wollen gar nicht höher. Stimmt gar nicht, wir wollen - aber wir wollen mit Bedacht."
Der Widerspenstige
2010 aber setzte der FC St. Pauli zu einem großen Sprung an und scheiterte prompt. Mit nur einem Sieg und einem katastrophalen Torverhältnis von 14:83 ging es sofort wieder eine Etage tiefer. Die Abteilung stand am Saisonende gespalten wie nie da. Der damalige Trainer der A-Mädchen Flemming Nielsen und dessen Co-Trainer Ulf Ancker griffen offen nach der Macht, wollten die alleinige sportliche Leitung über alle Teams.
"Tatsächlich war das eine richtig krasse Saison, weil das Team ist ja komplett auseinandergebrochen." Der Kader war damals nicht allzu groß. Torjägerin Sonja Fliegel zog sich in der Vorbereitung einen Kreuzbandriss zu, Tine Kreich kämpfte neben vielen anderen mit Verletzungen. "Damals war ich dicht davor hinzuschmeißen, weil dann immer jemand hinter dir steht und sagt, ich kann das besser, ich mach das besser."
Tatsächlich fuhren die internen Gegner damals harte Geschütze auf. "Ich wurde sogar aus dem Präsidium heraus zum Rücktritt aufgefordert", erinnert sich Czarnowski. "Die haben sich mit allen an den Tisch gesetzt, nur nicht mit mir. Ich war der Einzige, der nie gehört wurde." An dem von ihm mitinszenierten großen Sprung drohte der Trainer zu zerbrechen, der sich selbst in dieser Hinsicht als konservativ beschreibt und damit ein typisches norddeutsches Stereotyp erfüllt, als jemand der krasse Veränderungen überhaupt nicht mag.
Der Meistertrainer
"Ich hab dann aber auch, und wir als Abteilung, die Rückendeckung erfahren, dass es so weiter laufen soll, wie es davor war." Mit der Abteilungsleitung gemeinsam beschloss er den Widrigkeiten zu trotzen und verlängerte für zwei Jahre. "Das war ein Scheißjahr, doch es war dennoch gut für die Entwicklung. Ohne diese Saison stünden wir heute nicht dort, wo wir nun angekommen sind."
Von nun an ging es stetig bergauf. Zwei Jahre später folgte 2013 der Wiederaufstieg. Nach zwei dritten Plätzen und der Hamburger Meisterschale folgte der emotionsreiche Aufstieg in die Regionalliga und schließlich der überragende dritte Rang in der dritthöchsten Spielklasse. Die Zeit war reich an emotionalen Höhepunkten. Doch ein Spiel überragt für ihn dann doch alle anderen: "Das Derby gegen den HSV! Zu ganz wichtigen Spielen bin ich immer ans Wasser gefahren. Damals bin ich für ein paar Stunden direkt an die Nordsee gefahren und habe mir Gedanken gemacht, wie ich letztendlich spielen lassen will. Es war für alle das Spiel des Jahres. Man tut nicht allen einen Gefallen, gerade denen, die man dann nicht spielen lässt."
"Ich hab damals in der Kabine gesagt: Wir alle haben solange darauf gewartet, endlich mal gegen den HSV zu spielen. Und der Fußballgott, der hat es heute vorbereitet. Heute an dem Tag, für das Spiel, wo der HSV das erste Mal für uns realistisch schlagbar ist. Das machen wir heute. Wir sind rausgegangen und haben die geschlagen." Die Stimmung an der Feldstraße war an jenem Abend grandios. Doch der Trainer hatte nicht nur eine sportliche Aufgabe. Als ein Abbruch der Partie wegen eines Rauchtopfes drohte, sprintete er über das Feld und knöpfte sich die zwei Übeltäter mit einer direkten Ansprache persönlich vor.
Der Aufhörer
Nach dem verlorenen Pokalfinale vor einer Rekordkulisse und dem geglückten Aufstieg in die Regionalliga dachte Czarnowski an einen Ausstieg. Die letzten Wochen der Saison gingen an seine Substanz. "Im letzten Sommer musste ich etwas für mich tun und habe ein paar Kilo abgenommen. Wenn ich in die Regionalliga gehe, dann brauche ich mehr Kraft, mehr Energie und muss die Akkus noch einmal richtig vollmachen. Dass es dann so eine entspannte Saison wird, damit konnte keiner rechnen."
Damals stellte Czarnowski dem Team die Trainerfrage und erhielt volle Rückendeckung. Um Vorbild zu sein, verzichtete er fortan auch auf eine lieb gewonnene Angewohnheit. "In der Regionalliga hat Cola nichts zu suchen - auch nicht auf der Trainerbank. Ich stellte meine Ernährung um, um zu zeigen, ich mach auch noch mal den nächsten Schritt."
Dieser ist nun gegangen. Die Frage, warum denn nun Schluss ist, ist nicht so einfach zu beantworten. Nach fast 13 Jahren scheint es so, als ob Czarnowski eine Pause braucht. Er spricht von Motivation, Alltag und der Zukunft der Abteilung. Leise ist herauszuhören, dass er unbedingt im Erfolg gehen, nicht vom Hof gejagt werden wollte. Doch so ganz realisiert hat er das Ende noch nicht. "Was gibt es Schöneres, als hier Trainer zu sein," hebt er die Bedeutung, Trainer an der Feldstraße zu sein, hervor.
Da ein weiterer großer Trainer in diesem Sommer am Millerntor verabschiedet wurde, würde ich beiden zu einem gemeinsamen Treffen raten: Ich bin mir sicher, das Angebot für eine Selbsthilfegruppe mit Ewald Lienen würde Czarnowski nicht ablehnen.
Zum Abschluss noch eine kleine Anekdote aus gut unterrichteten Kreisen: Kai wusste sich gleich zu Beginn hervorragend in das Umfeld des damals feierwütigen Teams einzufügen. Nach seinem Einstand im Jolly Roger wurde er ausgerechnet von der damaligen Kapitänin Inga Wassmuss früh am Morgen friedlich schlummernd auf einer Parkbank gefunden und geweckt. Der Heimweg war wohl etwas zu lang gewesen. Gewiss fluchte er damals, denn hatte er nicht gerade vom FC St. Pauli in der Regionalliga geträumt?
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